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Verschlungene Pfade der Abstraktion

Über Andreas Kempes Serie „next to nothing”

 

Das Geflecht, das Andreas Kempe in seinen Radierungen anlegt, folgt zwei wesentlichen Prinzipien, die einander gegenüber treten: parallel gesetzte Linien, die gerade und vertikal den Bildraum durchlaufen, auf der einen Seite und verschlungene Linien auf der anderen, die sich dynamisch über die Bildfläche ziehen.

Die senkrechte Linie folgt entschieden den Bedingungen, die durch den rechtwinkligen Rahmen des Bildformats vorgegeben werden. Sie vermittelt eine gewisse Art der Disziplin, eine bewusst gewählte Haltung. Die verschlungenen Linien hingegen gleiten über die Fläche, als wollten sie sich keinen Anweisungen unterordnen. In ihnen drückt sich die Bewegung des Körpers aus, wenn er seinen natürlichen anatomischen Möglichkeiten folgend, im Wechselspiel von Hebel und Gelenken des Knochenbaues, um Zentren kreist. Die fließenden Schlingen, die sich in Kempes Grafiken frei formieren, veranschaulichen das zudem, indem sie in ihrer Stärke an- und abschwellen. Wenn sich die Radiernadel in die Kurve legt, drückt sie sich tiefer in die Platte, wie durch die Fliehkraft der Bewegung verstärkt, und so wird die Spur breiter und vermittelt eine höhere energetische Aufladung. Kempe erprobt die Ausdruckskraft dieser beiden graphischen Möglichkeiten, indem er sie in einer Serie unter dem Titel „next to nothing“ einander gegenüberstellt. Das geschieht in verschiedenen Formen: separiert auf einzelnen Blättern oder indem sie gemeinsam in einem Bild erscheinen. Dabei nutzt er die Möglichkeit, zwei radierte Platten übereinander zu drucken. Die Zeichnungen, die ursprünglich auf unterschiedlichen Flächen entstanden sind, überlagern sich dann. Je nach dem, wie wir sie betrachten, kommen so die Grauwerte zusammen, die sich durch die grafischen Strukturen ergeben, oder wir lösen sie voneinander nach den ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien der zeichnerischen Bewegung.

 

Unwillkürlich mischen sich in die Rezeption Formen der Identifikation: Das Bild wird zum Spiegelbild des Körpers, dessen, der vor ihm steht. Die vertikale Linie ist Ausdruck der aufrechten Haltung. Bei der verschlungen gezeichneten Linie ist der Vorgang der Identifikation komplexer. Sie ergibt sich über die Ballungen. Die Dichte der Linien und ihre Breite – damit auch der Druck, mit dem sie gezeichnet wurden – ist in der Mitte des Bildraumes stärker als zum Rand hin. Die geballten Zonen tendieren dazu, den Anspruch zu stellen, als Subjekte interpretiert zu werden.

Zwei Prinzipien der Subjektidentifikation des Betrachters erscheinen so in den beiden graphischen Strukturen separiert: aufrechter Stand und die räumliche Geschlossenheit des Gegenständlichen.

Jenseits dieses Zugriffs und abhängig von der Disposition ihres Betrachters bleiben die Linien was sie sind, aufs Papier gedruckte Farbe.

 

Es handelt sich bei den Arbeiten um Radierungen. Die Trägerplatte, in die Kempe die Zeichnungen graviert hat, ist aus Acrylglas. Dieses Material weist gegenüber den üblicherweise verwendeten Kupferplatten Eigenheiten auf. Es ist weicher und besser zu bearbeiten. Gerade auch bei den beachtlichen Dimensionen kann so der Griffel leichter über die Oberfläche gleiten und seine Spuren hinterlassen. Entsprechend dem Verfahren der Kaltnadelradierung wird die Platte unmittelbar manuell bearbeitet. Dadurch entstehen spezifische Linien, die weicher erscheinen als solche auf Druckplatten, die beispielsweise in einem Ätzvorgang bearbeitet wurden. Neben der Radiernadel hat sich Kempe entschieden, ein Werkzeug für diese Arbeiten zu verwenden, das ihm eine noch leichter gleitende Bewegung erlaubt: Er setzt eine Rotationsfräse ein, wie sie auch in der Zahnmedizin verwendet wird und die entsprechend der Geschwindigkeit beim Gravieren der Platte jene sehr eigenständige Spur hinterlässt, die mal wie gepunktet und gestrichelt erscheint oder gar wie ein Ornament durch das Bildfeld läuft, das aus Einzelflecken besteht, die von kleinsten Linien zusammengehaltenen werden.

 

Der summarische Blick auf die nebeneinander stehenden Linien löst sie als Einzelne in einem Feld auf. Das ist die Funktion einer Schraffur, durch die in der Grafik Tonabstufungen erzielt werden. Je nach Stärke des Strichs und Dichte der Linien wirkt das so bezeichnete Feld mal heller und dann dunkler. Kempe betont diese Funktion, indem er darauf verzichtet, beim Einfärben für den Druck einen Plattenton stehen zu lassen. Die Farbe wird in die gerissenen Grate gewischt und von der blanken Fläche völlig entfernt. So ergibt sich jenseits der emotionalen Aufladung der verschlungenen Linien eine Nüchternheit des Feldes.

 

Kempes Liniengeflechte können in ihrer Gleichmäßigkeit als Feld verstanden werden, in dem man zugleich auch einzelnen Linien ihrem Verlauf folgend kann. Dabei verliert sich der Blick im Dickicht der Zeichnungen. Das verbindet die Radierungen mit Arbeiten des Künstlers aus den Jahren 2013-2015, die den Titel „Waldinneres“ tragen. Kempe hat Pigmentdrucke mit Nahaufnahmen von Bäumen und Büschen, kleinen Baumgruppen und dichtem Laub mit einem Netz an Linien überzeichnet, die das Grundmotiv verwandeln. Die Gleichförmigkeit des Blätterwerks und die freien Schraffuren des Zeichenstifts ergänzen sich und erkunden im Zusammenspiel ihre Formkapazitäten. So entstehen Volumen von Baumkronen und Raumtiefe, die ins Innere der Zeichnung führt. Kempe verbindet dabei einerseits die romantische Sicht auf den Wald als Sehnsuchtsort und Repräsentant von Natur mit andererseits Formen der modernen Abstraktion, die nach den hinter der natürlichen Erscheinung der Dinge wirkenden Prinzipien fragt.

 

Die Radierungen hat Andreas Kempe während eines Reisestipendiums in Thessaloniki im Jahr 2014 gefertigt und 2015 nach seiner Rückkehr in Dresden gedruckt. Er hat dabei die Möglichkeiten der vor Ort bestehenden Grafikwerkstatt genutzt, und das Medium von seiner einfachsten Struktur, der Relevanz der Linie, her befragt.

 

Dr. Holger Birkholz

Intricate Paths of Abstraction

On Andreas Kempe’s Series “next to nothing”

 

The network that Andreas Kempe creates in his etchings follows two essential principles that overlap one another: on one side, parallel lines, which run straight and vertically through the pictorial space and on the other side, intricate lines that dynamically move across the pictorial surface.

 

The upright line decisively follows the requirements predetermined by the right-angled frame of the format. It communicates a certain kind of discipline, a consciously chosen stance. The intricate lines, in contrast, glide over the surface, as if they don’t want to subordinate themselves to any instructions. These lines express the movement of the body, which that revolves around central points according to its natural anatomical possibilities with the interplay of the skeleton’s levers and joints. Moreover, the flowing loops that form freely in Kempe’s graphic work illustrate this, ebbing and bulging in intensity. When the engraving needle sits in the curve, it presses more deeply into the plate, the pressure increased by the centrifugal force of the movement; in this way, the trace becomes larger and conveys a higher energetic charge. Kempe tests the expressive power of these two graphic possibilities by placing them across from each other in a series titled “next to nothing.” The testing happens in various forms: separated on individual sheets or by appearing together in one single image. For the latter purpose, he uses the possibility of pressing two engraved plates on top of each other. The drawings that were originally created on different surfaces now overlay each other.Depending on how we look at them, the gray tones, which are produced by the graphic structures, merge – or we release them from each other according to the underlying principles of graphic movement.

 

Inevitably, forms of identification come into play during the reception process; the image becomes a reflection of the body of the person who stands before it. The vertical line is the expression of an upright stance. The process of identification is more complex when it comes to the intertwined lines. They yield to congestion. The density of the lines and their width – as well as the pressure with which they are drawn – is stronger in the middle of the pictorial space than at the edges. The congested zones tend to challenge the viewer to interpret them as a specific subject. Two principles of the viewer’s identification with the subject appear separated in the two graphic structures: the upright stance and the spatial enclosure of the object world. Beyond this grasp and depending on the disposition of their viewer, the lines remain what they are – color printed on paper. These works are etchings. The plate on which Kempe has inscribed his drawings is made of acrylic glass, a material that exhibits peculiarities compared to the typically-used copper plates. It is softer and easier to work on. Especially when it comes to larger dimensions, the stylus can move more lightly over the surface, leaving its trace. And like in dry-point etching, the plate is worked directly by hand. This means that specific lines emerge, which seem softer than those on printing plates that are worked in the etching process. In addition to the etching needle, Kempe has decided to use a tool for this work that allows for an even lighter, gliding movement; he employs a rotary cutter that is normally used in dentistry. Because of the speed at which the plate is engraved, the machine leaves behind very unique traces, which sometimes appear as dots or stippling or sometimes move across the pictorial field like an ornament made up of individual spots, which are held together by the smallest lines. A summary glance at the adjacent lines dissolves them as individuals in a field. That is the function of hatching, produced by the print’s gradations in tone. Depending on the strength of the stroke and the thickness of the lines, the designated field sometimes seems lighter and then darker. Kempe emphasizes this function by not allowing a surface tone to remain during the inking for the print. The color is wiped into the torn lines and completely removed from the bare surfaces. In this way, beyond the emotional charge of the intricate lines, the image surrenders to the abstinence of the field.

 

Kempe’s networks of lines can – in their uniformity – be understood as a field, in which the viewer can also follow the course of the individual lines at the same time. In the process, the gaze loses itself in the density of the drawing. This aligns the etching with the artist’s work produced between 2013-2015, under the title “Waldinneres.” Kempe drew a net of lines over the carbon prints of close-up views of trees, bushes, little groups of trees and dense vegetation, changing the original motifs. The uniformity of the foliage and the loose hatching of the pen complement one another, exploring the capacities of their forms in their interaction. In this way, spatial depth emerges from voluminous treetops, leading into the interior of the drawing. Kempe binds together a romantic view of the forest as a place of yearning and the representative of nature on the one side with forms of modern abstraction, which question the effective principles behind the natural appearance of things, on the other side.

 

Andreas Kempe produced the etchings during a travel grant to Thessaloniki in 2014 and printed them after his return to Dresden in 2015. In Dresden, he used the possibilities of the local “Grafikwerkstatt,” interrogating the medium’s most elementary structure, investigating the relevance of the line.

 

Dr. Holger Birkholz // Translation Jessica Buskirk

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